Dreimal Salwa

Motivation

Über ein Jahrzehnt lang hat Willi Herzig sein Patenkind Salwa unterstützt. Mit uns teilt er seine – und ihre – Geschichte.

Am liebsten hätte sie sich wohl hinter dem Sofa verkrochen. Eng  an die Mama geschmiegt, guckte das kleine Mädchen verschüchtert die fremden Besucher an und machte keinen Piep. Es war die erste Begegnung mit unserem palästinensischen Patenkind im Frühjahr 2002.  Die 7-jährige Salwa Kraymid  bewohnte mit ihrer Mutter und drei älteren Geschwistern eine kleine Zweizimmerwohnung in Sabra, einem heruntergekommenen Vorstadtviertel von Beirut, wo Tausende palästinensische Geflüchtete leben. Eine Englisch sprechende Sozialarbeiterin hatte uns begleitet und eine Verständigung mit Mutter Kraymid ermöglicht. Wir erfuhren, dass Salwas Vater Ibrahim 1996 in Beirut als „Märtyrer“ gestorben war und die Vorfahren, 1948 im Zuge der israelischen Staatsgründung aus Haifa vertrieben,  über die Nordgrenze in den Libanon geflüchtet waren.

Die Sozialarbeiterin war für das palästinensische Hilfswerk „Beit Atfal Assumoud“ (BAS) tätig, das als Partnerorganisation von Palestine’s Children (PalCH) die Patenschaft vermittelt hatte. BAS ist säkular ausgerichtet und unterstützt Palästinenserfamilien, die im Libanon meist ohne Arbeit und Perspektive in überfüllten Lagern leben, macht Sozialarbeit, Berufsberatung und  Berufsschulung, leistet materiellen, medizinischen, psychologischen und juristischen Beistand.

Die Patenschaft verpflichtete uns, mit 600 Franken pro Jahr die Kosten für Salwas zehnjährige obligatorische Schulzeit an einer UNO-Schule zu übernehmen und darüber hinaus die nahezu mittellose Familie Kraymid sowie die Arbeit von BAS zu unterstützen. Jahr für Jahr schickte uns das Hilfswerk, meist gegen Weihnachten hin, einen Bericht, der über Salwas (gute) schulische Leistungen und ihre (zufriedenstellende) Gesundheit informierte, anfänglich begleitet von einer Zeichnung oder einem Scherenschnitt des Patenkindes, später von einem handgeschriebenen Dankesbrief Salwas mit liebevoll gezeichneten Comic-Figuren oder auch mal einem Foto von ihr.

Wiedersehen nach 10 Jahren

Im Frühling 2012 liess ich mich vorzeitig pensionieren und erfüllte mir einen alten Wunsch: Nachdem ich Teile des Libanon 1982, 1984 und 2001 als Journalist kennen gelernt hatte, wollte ich das faszinierende kleine Land nochmals besuchen, diesmal privat und auf eigene Faust.  Für zehn Tage bezog ich Quartier bei befreundeten Gastgebern im Haus Dar Assalam in Wardanyieh, einem kleinen Ort in den Schufbergen südöstlich von Beirut. Mit Ziad, einem routinierten und unterhaltsamen Taxifahrer, fuhr ich in die alte Hafenstadt Tripoli im Landesnorden, in die Bekaa-Ebene zu den spektakulären Tempelruinen von Baalbek, mit dem „Überraschungsgast“  Jumana Saba aus der Schweiz in die nahen Schufberge und ins Libanon-Gebirge, wo Ende April noch Schnee lag, mit Gastgeberin Latifeh südwärts, in die Küstenstädte Saida und Tyrus.

Vor allem aber wollte ich, zehn Jahre nach der ersten Begegnung, unser Patenkind in Beirut besuchen. Ursula Hayek von PalCH hatte dem BAS-Büro in der libanesischen Hauptstadt meinen Wunsch übermittelt. Dort traf ich die für Patenschaften zuständige Palästinenserin Fatima, die meinen Besuch bei Kraymids in Sabra einfädelte. Mutter und Tochter freuten sich offensichtlich und empfingen mich herzlich. Aus dem schüchternen kleinen Mädchen war eine lebhafte, selbstbewusste Teenagerin geworden. Salwa, mittlerweile 17, sprach fliessend Englisch. Sie stellte Fragen und plauderte über ihr Leben in Beirut, Schule und Familie, über Freizeitaktivitäten und Reisepläne. Dann aber drängte Frau Kraymid den Gast, am Esstisch Platz zu nehmen.

Der Tisch war – einzig und allein für mich – überaus üppig gedeckt. Die Mahlzeit begann mit einer Palette von orientalischen Vorspeisen, gefolgt von viel Hühnchen mit Reis und Sultaninen und endete mit Baklawa und anderen Süssigkeiten –  alles aufgetragen in Mengen, an denen sich ein halbes Dutzend Gäste hätte satt essen können. Jedes Gericht war schmackhaft, doch ich fühlte mich regelrecht genötigt, weit über meinen Appetit zu essen, um den Gastgeberinnen die Ehre zu erweisen.

Von der Schule an die Uni

Salwa war 2012  im letzten Schuljahr und hatte Pläne für danach. Sie träumte von einem Universitätsstudium und einer Ausbildung in Management oder Ingenieurwesen. Hocherfreut nahm sie mein spontanes Angebot an, die Patenschaft zu verlängern, um auch ihr Studium zu unterstützen. Und in der Tat: 2014 informierte BAS, Salwa sei im zweiten Jahr ihres Studiums im Departement Business und Management an der Arabischen Universität Beirut -„she is good at her studies“. Ein paar Monate später schrieb mir Salwa, es blieben ihr noch zwei Jahre, um das Studium in Management abzuschliessen.

Im Oktober 2016 erhielt Ursula Hayek eine überraschende Nachricht aus Beirut. In knappen Worten teilte Fatima mit, unsere Patenschaft sei nach 14 Jahren beendet; Salwa habe ihr Studium „gestoppt“ und arbeite als Sekretärin. Hatte sie die Motivation plötzlich verloren und das Studium abgebrochen? Es gab keine weiteren Nachrichten mehr, der Kontakt brach ab. Doch die sich häufenden Hiobsbotschaften aus dem Libanon liessen mich vermehrt wieder an Salwa denken: Wie mochte es ihr wohl gehen – als rechtlose Palästinenserin in einem Land, das in den Strudel einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise gerissen worden war? Wo soziales Elend die breite Bevölkerung erfasst hat, während die korrupte Elite sich an illegalen Geschäften bereichert und monatelang verantwortungslos über die Aufteilung der Macht streitet?

Noch eine Begegnung

In den letzten Wochen hatte ich mehrmals erfolglos versucht, Salwa telefonisch zu erreichen. Resigniert begann ich mich damit abzufinden, dass die Nummer vermutlich neu vergeben worden sei und Salwa mit 26 Jahren woanders – vielleicht verheiratet? Als Mutter? – lebe. Doch am 4. September erhielt ich auf einen neuerlichen Anruf hin eine Whatsapp-Nachricht: „Hello, I’m Salwa“ und mit einem Smiley versehen: „Glad that we meet again.“ Stolz berichtete Salwa, sie habe in diesem Frühjahr ihren Bachelor-Studienabschluss gemacht. Als Single sei sie seither auf Jobsuche. Und spontan schickte sie ein Foto von sich, eine hübsche junge Dame mit elegantem weissem Kopftuch, und fragte kokett: „Habe ich mich (seit 2012) stark verändert?“ Nach einigem Hin und Her wünschten wir uns gegenseitig Glück. Danke Salwa für die neuerliche Begegnung!

Am liebsten hätte sie sich wohl hinter dem Sofa verkrochen. Eng  an die Mama geschmiegt, guckte das kleine Mädchen verschüchtert die fremden Besucher an und machte keinen Piep. Es war die erste Begegnung mit unserem palästinensischen Patenkind im Frühjahr 2002.  Die 7-jährige Salwa Kraymid  bewohnte mit ihrer Mutter und drei älteren Geschwistern eine kleine Zweizimmerwohnung in Sabra, einem heruntergekommenen Vorstadtviertel von Beirut, wo Tausende palästinensische Geflüchtete leben. Eine Englisch sprechende Sozialarbeiterin hatte uns begleitet und eine Verständigung mit Mutter Kraymid ermöglicht. Wir erfuhren, dass Salwas Vater Ibrahim 1996 in Beirut als „Märtyrer“ gestorben war und die Vorfahren, 1948 im Zuge der israelischen Staatsgründung aus Haifa vertrieben,  über die Nordgrenze in den Libanon geflüchtet waren.

Die Sozialarbeiterin war für das palästinensische Hilfswerk „Beit Atfal Assumoud“ (BAS) tätig, das als Partnerorganisation von Palestine’s Children (PalCH) die Patenschaft vermittelt hatte. BAS ist säkular ausgerichtet und unterstützt Palästinenserfamilien, die im Libanon meist ohne Arbeit und Perspektive in überfüllten Lagern leben, macht Sozialarbeit, Berufsberatung und  Berufsschulung, leistet materiellen, medizinischen, psychologischen und juristischen Beistand.

Die Patenschaft verpflichtete uns, mit 600 Franken pro Jahr die Kosten für Salwas zehnjährige obligatorische Schulzeit an einer UNO-Schule zu übernehmen und darüber hinaus die nahezu mittellose Familie Kraymid sowie die Arbeit von BAS zu unterstützen. Jahr für Jahr schickte uns das Hilfswerk, meist gegen Weihnachten hin, einen Bericht, der über Salwas (gute) schulische Leistungen und ihre (zufriedenstellende) Gesundheit informierte, anfänglich begleitet von einer Zeichnung oder einem Scherenschnitt des Patenkindes, später von einem handgeschriebenen Dankesbrief Salwas mit liebevoll gezeichneten Comic-Figuren oder auch mal einem Foto von ihr.

Wiedersehen nach 10 Jahren

Im Frühling 2012 liess ich mich vorzeitig pensionieren und erfüllte mir einen alten Wunsch: Nachdem ich Teile des Libanon 1982, 1984 und 2001 als Journalist kennen gelernt hatte, wollte ich das faszinierende kleine Land nochmals besuchen, diesmal privat und auf eigene Faust.  Für zehn Tage bezog ich Quartier bei befreundeten Gastgebern im Haus Dar Assalam in Wardanyieh, einem kleinen Ort in den Schufbergen südöstlich von Beirut. Mit Ziad, einem routinierten und unterhaltsamen Taxifahrer, fuhr ich in die alte Hafenstadt Tripoli im Landesnorden, in die Bekaa-Ebene zu den spektakulären Tempelruinen von Baalbek, mit dem „Überraschungsgast“  Jumana Saba aus der Schweiz in die nahen Schufberge und ins Libanon-Gebirge, wo Ende April noch Schnee lag, mit Gastgeberin Latifeh südwärts, in die Küstenstädte Saida und Tyrus.

Vor allem aber wollte ich, zehn Jahre nach der ersten Begegnung, unser Patenkind in Beirut besuchen. Ursula Hayek von PalCH hatte dem BAS-Büro in der libanesischen Hauptstadt meinen Wunsch übermittelt. Dort traf ich die für Patenschaften zuständige Palästinenserin Fatima, die meinen Besuch bei Kraymids in Sabra einfädelte. Mutter und Tochter freuten sich offensichtlich und empfingen mich herzlich. Aus dem schüchternen kleinen Mädchen war eine lebhafte, selbstbewusste Teenagerin geworden. Salwa, mittlerweile 17, sprach fliessend Englisch. Sie stellte Fragen und plauderte über ihr Leben in Beirut, Schule und Familie, über Freizeitaktivitäten und Reisepläne. Dann aber drängte Frau Kraymid den Gast, am Esstisch Platz zu nehmen.

Der Tisch war – einzig und allein für mich – überaus üppig gedeckt. Die Mahlzeit begann mit einer Palette von orientalischen Vorspeisen, gefolgt von viel Hühnchen mit Reis und Sultaninen und endete mit Baklawa und anderen Süssigkeiten –  alles aufgetragen in Mengen, an denen sich ein halbes Dutzend Gäste hätte satt essen können. Jedes Gericht war schmackhaft, doch ich fühlte mich regelrecht genötigt, weit über meinen Appetit zu essen, um den Gastgeberinnen die Ehre zu erweisen.

Von der Schule an die Uni

Salwa war 2012  im letzten Schuljahr und hatte Pläne für danach. Sie träumte von einem Universitätsstudium und einer Ausbildung in Management oder Ingenieurwesen. Hocherfreut nahm sie mein spontanes Angebot an, die Patenschaft zu verlängern, um auch ihr Studium zu unterstützen. Und in der Tat: 2014 informierte BAS, Salwa sei im zweiten Jahr ihres Studiums im Departement Business und Management an der Arabischen Universität Beirut -„she is good at her studies“. Ein paar Monate später schrieb mir Salwa, es blieben ihr noch zwei Jahre, um das Studium in Management abzuschliessen.

Im Oktober 2016 erhielt Ursula Hayek eine überraschende Nachricht aus Beirut. In knappen Worten teilte Fatima mit, unsere Patenschaft sei nach 14 Jahren beendet; Salwa habe ihr Studium „gestoppt“ und arbeite als Sekretärin. Hatte sie die Motivation plötzlich verloren und das Studium abgebrochen? Es gab keine weiteren Nachrichten mehr, der Kontakt brach ab. Doch die sich häufenden Hiobsbotschaften aus dem Libanon liessen mich vermehrt wieder an Salwa denken: Wie mochte es ihr wohl gehen – als rechtlose Palästinenserin in einem Land, das in den Strudel einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise gerissen worden war? Wo soziales Elend die breite Bevölkerung erfasst hat, während die korrupte Elite sich an illegalen Geschäften bereichert und monatelang verantwortungslos über die Aufteilung der Macht streitet?

Noch eine Begegnung

In den letzten Wochen hatte ich mehrmals erfolglos versucht, Salwa telefonisch zu erreichen. Resigniert begann ich mich damit abzufinden, dass die Nummer vermutlich neu vergeben worden sei und Salwa mit 26 Jahren woanders – vielleicht verheiratet? Als Mutter? – lebe. Doch am 4. September erhielt ich auf einen neuerlichen Anruf hin eine Whatsapp-Nachricht: „Hello, I’m Salwa“ und mit einem Smiley versehen: „Glad that we meet again.“ Stolz berichtete Salwa, sie habe in diesem Frühjahr ihren Bachelor-Studienabschluss gemacht. Als Single sei sie seither auf Jobsuche. Und spontan schickte sie ein Foto von sich, eine hübsche junge Dame mit elegantem weissem Kopftuch, und fragte kokett: „Habe ich mich (seit 2012) stark verändert?“ Nach einigem Hin und Her wünschten wir uns gegenseitig Glück. Danke Salwa für die neuerliche Begegnung!